Die Hochhausspringerin

In ihrem Debüt inszeniert Julia von Lucadou einen packenden Drahtseilakt zwischen totalitärer Überwachung und Freiheitsdrang. Riva, die Protagonistin, ist eine Vorzeigeathletin einer neuen Welt und Millionen halten den Atem an, wenn sie zum Sprung ansetzt. Dann hört Riva von einem Tag auf den anderen auf und verweigert den jubelnden Massen ihre Präsenz. Hier kommt Hitomi ins Spiel. Die Wirtschaftspsychologin überwacht Riva und soll sie gefügig machen. Wenn es ihr nicht gelingt, stürzen beide ab.

 

Die Überwindung der Schwerkraft

Die Beziehung zweier Brüder steht im Zentrum des dritten Romans von Heinz Helle. Virtuos verknüpft der Autor eine Spurensuche mit den grossen Fragen des Lebens. Eine Nacht lang ziehen die Brüder von Kneipe zu Kneipe. Vor allem der Ältere trinkt an gegen das Elend der Welt, die von Krieg und Gewalt bestimmt ist. Aber er erzählt seinem Bruder auch vom baldigen Vaterglück. Was beide nicht wissen: Es wird danach kein Wiedersehen geben. Neun Monate später ist der ältere Bruder tot.

 

Hier ist noch alles möglich

Eine junge Frau wird als Nachtwächterin in einer Verpackungsfabrik engagiert. Ein Wolf soll in das Gelände eingedrungen sein. Abend für Abend macht sie ihren Rundgang, kontrolliert die Zäune. Mit der Fabrik, die von der Schliessung steht, und dem wenigen verbleibenden Personal schafft Gianna Molinari eine faszinierend-verstörende Welt, in der der Wolf zum Phantom wird und die Frage, was uns bedroht und welche Grenzen wir ziehen, immer mitschwingt.

 

Das Eidechsenkind

Offiziell darf es das Kind nicht geben. Im «Gastland» muss es sich verstecken: unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer, während der Vater auf dem Bau und die Mutter in der Fabrik arbeitet. Im italienischen Ripa hingegen, bei der Nonna Assunta, rennt und spielt der Junge wie alle Kinder. Aus der Sicht eines Kindes erzählt Vincenzo Todisco von einer Saisonier-Familie der 60er Jahre und von einem klandestinen Schicksal mitten in der Schweiz.

 

Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch.

«Siebzehn Stationen von Kronenstrasse bis Balgrist, laut Fahrplan siebenundzwanzig Minuten Fahrt» – auf dem täglichen Weg in die Klinik versucht Urs Faes aufzuschreiben, was ihm geschieht: die Müdigkeit nach der Bestrahlung, die Erinnerung an seine Kindheit, die Angst. «Halt auf Verlangen» ist das bisher wohl intimste Buch von Urs Faes, eine fragmentarische Autobiografie in der gewohnt dichten, poetischen Sprache, ein eindringlicher Krankheitsbericht und eine Hommage an das Schreiben.

 

Knochenlieder

«Knochenlieder» erzählt die Geschichte von vier Aussteigerfamilien: zunächst von deren Leben in einer kommunenartigen, abgeschotteten Siedlung mit eigenen Regeln und vielen Geheimnissen, danach – rund 20 Jahre später – in einer Stadt mit totaler Überwachung und Stacheldraht-Zäunen. Martina Clavadetscher beschreibt mal mit Märchenmotiven, mal mit Hacker- Vokabular eine Welt im Ausnahmezustand. In einer knappen, bildstarken Sprache skizziert sie einen beklemmenden und überraschend aktuellen Gesellschaftsentwurf.

 

Das kürzere Leben des Klaus Halm

Ein arbeitsloser Filmvorführer verlässt seine Wohnung in Basel nur noch selten. Eines Tages fällt ihm im Tram ein Mann ins Auge, den er verfolgt und minutiös beobachtet: Klaus Halm. Dieser wirkt wie sein exaktes Gegenbild und hat scheinbar alles, was dem Erzähler fehlt: Frau und Kind, Erfolg und Anerkennung. Überraschend und gekonnt verschränkt Lukas Holliger die beiden Leben miteinander. Und am Ende ist sich nicht nur der grenzenlos zynische Ich-Erzähler unsicher, wer hier eigentlich wessen Leben lebt.

 

Immer ist alles schön

Die Mutter sagt, das Leben sei eine Wucht, und dass sie gerne noch ein Glas Wein hätte, denn es sei nicht einfach, so ein Leben zu leben. Sie braucht den Alkohol, um ihre Traurigkeit zu betäuben. Ihre Kinder Anais und Bruno versuchen, sich und die Mutter vor der Aussenwelt zu schützen. Einmal gesteht die Mutter: «Ich kann nicht mehr.» Und Anais erwidert: «Ich kann noch viel mehr nicht mehr.» Mit grosser Sogkraft lässt Julia Weber die 14-Jährige in einer unverstellten Sprache fröhlich-traurig aus dem Alltag zweier vernachlässigter Kinder erzählen, die sich gegen ihr Unglück auflehnen

 

Kraft

Richard Kraft, ein neoliberaler Rhetorikprofessor in Tübingen, ist unglücklich verheiratet und finanziell gebeutelt. Die wissenschaftliche Preisfrage eines Silicon Valley-Milliardärs, weshalb alles, was ist, gut ist und wir es dennoch verbessern können, scheint der Ausweg aus seiner Misere zu sein. Jonas Lüscher erzählt klug, komisch und mit einer erfrischenden Bösartigkeit nicht nur von einem Mann, der vor den Trümmern seines Lebens steht und versucht, sich mit dem Preisgeld von einer Million Dollar freizukaufen, sondern auch von den grossen ideologischen Auseinandersetzungen unserer Zeit.

 

Und was hat das mit mir zu tun

Seine Grosstante gab wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein rauschendes Fest, in dessen Verlauf 180 Juden erschossen wurden. Batthyany fängt an zu fragen, wie die Geschichte seiner Familie sein scheinbar so selbstbestimmtes Leben beeinflusst, auch über Generationen hinweg. Seine Suche nach Antworten führt ihn nach Ungarn, Österreich, Deutschland, Argentinien und Sibirien sowie auf die Couch eines Psychoanalytikers. Eine ungewöhnliche Familiengeschichte und ein Panorama Mitteleuropas, das nur vermeintlich verschwunden ist.

Laudatio von Susanna Petrin

 

Muster aus Hans

Hans ist eine jener Gestalten, die auf Biegen und Brechen nicht in die geschäftige Welt der gewöhnlichen Menschen passen. Schon im Titel klingt der Tonfall des Buches an, der das wunderbare Paradoxon schafft, gänzlich nüchtern und gleichzeitig poetisch verfremdend zu sein. Wie der Titel changiert dieses Buch zwischen Wirklichkeit und Märchen – denn gerade das ist es am Ende, wenn der wilde Mann zum König wird, doch.

Laudatio von Hans Ulrich Probst

 

Mehr Meer

«Erinnerungspassagen» ist der Untertitel des Buches, das in vielen kurzen Kapiteln vom Werdegang des kleinen, auf die Welt neugierigen Mädchens zur europäischen Intellektuellen erzählt. Als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter verbringt sie ihre Kindheit in einem Mitteleuropa, das nach dem Zweiten Weltkrieg gerade seine politischen und kulturellen Konturen neu eingeschrieben bekommt.

Laudatio von Martin Ebel

 

Depeschen nach Mailland

Ein Stück Stegreifliteratur mit einem mitreissenden improvisatorischen Drive. Ausgehend von einem Gespräch über Jazz entwickelt sich ein reger E-Mail-Diskurs, zunächst über Musik, der sukzessive zu einer laufenden Mitschrift des Alltags wird. Das neue Buch des Sprachkünstlers Laederach bietet vokabularischer Brillanz und eröffnet neue Blicke auf das, was wir, bevor man ihn las, «Wirklichkeit» nannte.

Laudatio von Manfred Papst

 

Flughafenfische

In der Ortlosigkeit eines Flughafens kreuzen sich die Lebenslinien dreier Menschen. Eine müde Magazinfotografin wird vor dem Riffaquarium der Transithalle von einem Schwindel aus Reisebildern und Erinnerungen erfasst. Sie findet eine seltsame Nähe zu dem Mann, der hier die stillen Tiere pflegt wie seine Kinder. Während sich zwischen den beiden eine verschwiegene Liebe entwickelt, geht nebenan im Raucherfoyer eine Ehe zu Ende.

Laudatio von Sandra Leis

 

Herr Adamson

Ein Mann mit demselben Geburtstag wie der Autor Urs Widmer sitzt am 21. Mai 2032, seinem letzten Lebenstag und einen Tag nach seinem vierundneunzigsten Geburtstag, in einem üppig blühenden Garten – es ist der Paradiesgarten seiner Kindheit – und bespricht mit Herrn Adamson ein Tonband. Eine Geschichte über das Leben und den Tod, die in aller Untröstlichkeit doch nie trostlos gerät.

Laudatio von Martin Zingg

 

Tauben fliegen auf

Es ist ein schokoladenbrauner Chevrolet mit Schweizer Kennzeichen, mit dem sie zur allgemeinen Überraschung ins Dorf einfahren und die Dorfstrasse ist wirklich nicht gemacht für einen solchen Wagen. Sie, das ist die Familie Kocsis, und das Dorf liegt in der Vojvodina im Norden Serbiens. Die Familie lebt zwar in der Schweiz, aber zu ihrer Heimat ist sie nicht geworden. Ein Roman über ein seltsames Europa, das einander nicht wahrnehmen will.

Laudatio von Martin Ebel

 

Notizen und Details 1964 ─ 2007

Sechs Jahrzehnte Zeitgeschichte umfassen die «Notizen und Details». Pointiert formulierte Hinweise, Porträts, Aphorismen, Polemiken zu Literatur, Theologie und Kirche sowie zu Vorgängen in Politik und Gesellschaft. Sie dokumentieren auf einzigartige literarische Weise ein Stück bewegter Geschichte eines engagierten, Widerspruch provozierenden Beobachters der näheren und weiteren Welt.

Laudatio von Manfred Papst

 

Der Goalie bin ig

Der «Goalie», ein Süchtiger aus einem Dorf im Mittelland, hält Rückschau. Er erzählt in Umgangssprache von seiner Lebenswelt in den 80er-Jahren. Seine Sicht auf die Umgebung ist getrübt vom Wunsch, sein bisheriges Leben schönzureden. Nach einer Gefängnisstrafe versucht er wieder im Alltag Fuss zu fassen, findet eine Gelegenheitsarbeit, verliebt sich in eine Serviererin und reist mit der Angebeteten nach Spanien. Trotzdem holen ihn die alten Geschichten immer wieder ein.

Laudatio von Hans Ulrich Probst

 

 

Paarbildung

Eigentlich ist Andreas Lüscher Unfallpsychologe. Seit er jedoch eine Stelle als Gesprächstherapeut in der onkologischen Abteilung eines Krankenhauses angetreten hat, bestimmen Vokabeln aus der Krebstherapie seinen Arbeitsalltag: Dosisfraktion, Rezidivrisiko, Paarbildung. Ihn, der lieber beobachtet als mittendrin steht, der lieber Distanz wahrt, als
zu nahe zu kommen, fasziniert das Verhältnis zwischen Patient und Arzt, die Bedeutung von Kommunikation, von Worten.

Laudatio von Sandra Leis

 

Einladung an die Waghalsigen

Margarete und Fritzi sind die übrig gebliebene Jugend einer verschwindenden Stadt. Ihr Erbe ist nichts als ein verlassenes Gebiet, in dem Verwüstung herrscht. Frühere Ereignisse sind nur bruchstückhaft überliefert. Doch die beiden Schwestern wollen diesen Zustand nicht hinnehmen. Entschlossen brechen sie auf zu einer Expedition, um ihre eigene Herkunft zu erforschen. Denn nur wer seine Geschichte kennt, kann sich eine hoffnungsvolle Zukunft aufbauen.

Laudatio von Martin Zingg

 

Jacob beschliesst zu lieben

Die abenteuerliche Lebensgeschichte des Jacob Obertin weitet sich zu einem Familienepos, in dem temporeich und in dichten, fantastischen Bildern das Schicksal seiner Familie über 300 Jahre hinweg – beginnend mit dem 30jährigen Krieg in Lothringen – erzählt wird. Die Geschichte der Familie ist mit der wechselhaften Geschichte Europas eng verwoben und beschreibt eine Welt, die in dieser ganzen Zeit nicht zur Ruhe gekommen ist.

Laudatio von Thomas Strässle

 

Seerücken

Sonja ist schön und erfolgreich. Alexander müsste mit ihr – von aussen betrachtet – glücklich sein. Ohne etwas vorwegzunehmen: Er ist es nicht. Jedenfalls hat er eine Geliebte. Die Erzählungen spüren in lakonischen Sätzen kaum spürbare Eruptionen auf, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht.

Laudatio von Andreas Isenschmied

 

Gerron

Kurt Gerron war einmal ein Star und ist jetzt nur noch ein Häftling unter Tausenden. Der Nationalsozialismus hat den Schauspieler von den Berliner Filmateliers ins Ghetto von Theresienstadt getrieben, wo er ein letztes Mal seine Fähigkeiten beweisen soll. Als er den Auftrag bekommt, einen Film zu drehen, steht er vor einer Gewissensentscheidung, bei der sein Leben auf dem Spiel steht. In dieser Lage lässt er sein Leben noch einmal Revue passieren.

Laudatio von Alexandra Kedves

 

Alias

Was fängt man mit der Hinterlassenschaft eines verstorbenen Freundes an? Die suchende und tastende Lebensbeschreibung einer ein halbes Jahrhundert durchmessenden Existenz ist gezeichnet von Verwerfungen und Brüchen, voller Turbulenzen, unsäglicher Leiden und unvergleichlicher Glücksmomente. Das Buch ist ein Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das die Einbildungskraft der Leserinnen und Leser auf den Prüfstand stellt.

Laudatio von Christine Lötscher

 

 

 

Grünschnabel

Ein Waisenmädchen leidet unter der Spracharmut im Heim, bis es in einer Adoptivfamilie beginnt, sich seine eigene Sprachwelt zu schaffen. Es sammelt Begriffe, ordnet diese in Wortschachteln, findet und erfindet Zusammenhänge und Bedeutungen. Ein ungewöhnlicher Bilderreichtum und eine eigenwillige Erzählweise kennzeichnen die Entwicklungsgeschichte. Monica Cantieni macht in «Grünschnabel» die zentrale Bedeutung der Sprache für den Aufbau individueller Identität deutlich.

Laudatio von Hans Ulrich Probst